Das Extremkino des japanischen Regisseurs Takashi Miike
Krieg der Körper

Das Extremkino des japanischen Regisseurs Takashi Miike


von Volker Hummel

Dead or Alive
Yakuza-Bosse sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Auf einem Sofa im Halbdunkel sitzt einer von ihnen, gerade hat er sich einen Schuss gesetzt, kurz darauf hebt er an zu einem Monolog, den man so schnell nicht vergessen wird: "Alle lachen, wenn sie ihn sehen. Aber sie lieben meinen Schwanz. Tut mir leid, dass er so klein ist. Das sind die Gene." Spätestens jetzt sollte auch dem letzten Zuschauer klar sein, dass die einstigen Ikonen japanischer Männlichkeit in die Krise geraten sind - mit äußerst unangenehmen Folgen. Die Worte des Yakuza sind an ein halbtotes Mädchen in einem Plastik-Swimmingpool gerichtet: "Noch immer läuft die Scheiße aus dir raus. Was ist das bloß mit dem menschlichen Körper. Ein vollkommenes Rätsel ... spürst du jetzt Gott?" Wenig später wird der Yakuza das Mädchen in ihrem eigenen Kot ertränken.

Monströse Szenen wie diese aus "Dead or Alive" machen unmissverständlich klar, warum der japanische Regisseur Takashi Miike vielen Kritikern als "wohl finsterst gesonnener Regisseur der Gegenwart" ("Spex") gilt. Auf dem letztjährigen Filmfestival in Rotterdam war Miike mit drei Werken vertreten, von denen vor allem "Dead or Alive" und "Audition" für euphorischen Brechreiz beim Publikum sorgten. Aus Japan war man harte Kost gewohnt, doch die Filme von Takashi Miike stellten alles bisher Dagewesene in den Schatten. Sie sind außerdem keine singulären Meisterwerke eines Autorenfilmers europäischer Fasson, sondern Produkte einer außerordentlich hochtourigen Ökonomie, des japanischen Film- und Videomarktes. Takashi Miike ist ein Meister der minimalen Budgets und knappen Drehzeiten, Produktionsbedingungen, die ihm völlige künstlerische Freiheit ermöglichen - und seit 1991 eine Filmografie hervorgebracht haben, mit der man sich in Europa langst zur Ruhe setzen könnte. "Audition" ist Miikes 25. Film, "Dead or Alive" sein 28.!

Extreme Gewalt, Manga-Wahnsinn, obsessive Beschäftigung mit dem Körper und seinen Funktionen: Wenn ein Zuschauer
Takashi Miike
heute Tabubrüche auf der Leinwand sehen will, geht er in einen japanischen Film. Eine solche Rezeptionshaltung verdeckt jedoch häufig mehr, als sie offenbart. Auch Miike passt auf den ersten Blick prima in die westliche Vorstellung von Japan als Reich der explodierenden Sinne. Schon die spektakuläre Eingangssequenz von "Dead or Alive" reiht in rasender Geschwindigkeit Bilder aneinander, in deren Mittelpunkt nicht Figuren, sondern Körper stehen: kopulierend, blutend, explodierend, fallend, tanzend, schwitzend, fressend, koksend, schreiend. Ganz nebenbei wird auch die Geschichte in Gang gebracht, die ganz genregemäß von einem Bandenkrieg in Tokios Unterwelt erzählt.

Wer nach dem furiosen Auftakt einen 90-minütigen visuellen Overkill erwartet, wird jedoch enttäuscht. Stattdessen entpuppt sich "Dead or Alive" als Meditation über eine Gesellschaft am Rande der Auflösung. Miikes Hauptaugenmerk gilt nicht den genretypischen Konfrontationen, sondern dem surrealen Dasein in einer Gesellschaft, die ihre Wurzeln verloren hat. Dieser Entwurzelung geht Miike in aller Ruhe in der Schilderung seiner beider Helden nach, des Gangsters Ryuichi und des Cops Jojima (gespielt von den japanischen Stars Riki Takeuchi und Sho Aikawa). Ryuichi gehörst wie viele von Miikes Figuren den "Zanryu Koji" an, einer Generation, deren Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg in China geblieben sind. Zurück in Japan, fühlen sie sich wie Fremde, "wie Japaner, aber nicht japanisch, wie Chinesen, aber nicht chinesisch", wie es eine Figur formuliert. Jojima hingegen wirkt wie ein Fremder in seiner eigenen Wohnung, er schläft auf der Couch und ist unfähig, mit seiner Frau über seine schwer kranke Tochter zu sprechen. Am Ende werden beide Kontrahenten ihre Familien verloren und nur noch einander haben - zur gegenseitigen Auslöschung.

Audition
"Kino der Wurzellosigkeit" wurde Miikes Schaffen genannt, und tatsächlich ist es sein gnadenloser Blick für gesellschaftliche Auflösungsformen, die alle seine Filme ihren Genregrenzen enthebt. "Audition" bedient sich des Psychothrillers, um diese Auflösung exemplarisch an einer Beziehung vorzuführen, die konventionell beginnt, um schließlich äußerst schmerzhaft zu scheitern. Wie in Hitchcocks "Psycho" nimmt auch hier das Unheil mit dem lustvollen Blick eines Mannes seinen Anfang: Der Witwer Aoyama sucht und findet bei einem getürkten Casting einen würdigen Ersatz für seine verstorbene Frau. Doch in Japan sind die Pathologien anders gelagert als in Bates' Motel, scheint doch diesmal der Tod dem begehrenden Blick vorangegangen zu sein. Ist Aoyamas Angebetete ein Geist, ein Dämon, ein Fantasma des Mannes? Jedenfalls kann sie außerordentlich handgreiflich werden, und schon bald muss Aoyama feststellen, wie außerordentlich schmerzhaft es sein kann, selber zum Objekt eines Castings degradiert zu werden.

Eine Stunde lang erzählt Miike in aller Ruhe seine Geschichte, streut Irritationen ein, doch dann sorgen ein paar schnelle Schnitte und Sprünge zwischen den Erzählebenen dafür, dass auf der Leinwand alles möglich ist. Das Finale des Films widmet sich voll und ganz dem menschlichen Körper und seiner Desintegration. Er fungiert in Miikes Universum als Symbol für das allen Bindungen enthobene Subjekt, dessen einzige Interaktionsform die Gewalt ist. Einer so intensiven Gewalt, dass sie sich sogar gegen den Zuschauer im Kinosaal zu richten scheint. Ob man das nun als feministische Genre-Variante, als äußerst blutige Inszenierung des Wiederholungszwangs oder als endgültige Absage an bürgerliche Ehevorstellungen interpretiert, bleibt jedem selbst Überlasen.

Februar 2oo1

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