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Whale Rider

Whale RiderNeuseeland, Deutschland 2oo2
Regie: Niki Caro
Buch: Witi Ihimaera, Niki Caro



Der Hintergrund und die Rahmenhandlung des Filmes:

Whale Rider zeigt einen vom Aussterben bedrohten Maori-Stamm, welcher an der Ostküste Neuseelands ein modernes Leben in bescheidenem Wohlstand führt. Ihr Anführer ist Koro, dessen sehnlichster Wunsch, ein männlicher Nachfolger, nicht in Erfüllung geht: bei der Geburt seiner zwei Enkel stirbt der männliche Zwilling. Allein seine Enkelin Pai überlebt, ein Mädchen. Doch Anführer kann nach der mythischen Überlieferung nur der erstgeborene Sohn eines erstgeborenen Sohnes sein.

So entschließt sich Koro alle Jugendlichen seines Stammes zusammenzutrommeln, um in einer Art Trainingscamp unter diesen den künftigen Stammesanführer zu ermitteln. Pai, die sich entschieden hat nicht mit ihrem Vater nach Deutschland abzuwandern, sondern bei ihrem Großvater Koro zu bleiben, wird als Mädchen der Zugang zu diesem Zirkel verwehrt. Doch auch beim letzten der Ausscheidungswettkämpfe kann kein neuer Häuptling gefunden werden. Koro verfällt in Depressionen, doch Pai gibt nicht auf und ruft ihre Vorfahren an.

Als am folgenden Morgen eine Herde gestrandeter Wale halbtot am Strand aufgefunden werden, glaubt Koro immer noch, Pais Gebete hätten ihr Volk ins Unglück gestürzt. Denn im Entstehungsmythos des Maori-Stammes sind die Wale heilige Tiere, auf deren Rücken einst ihr Urahne an die Küsten Neuseelands gebracht worden sei. Die geistige Umkehr Koros kommt ebenso überraschend wie märchenhaft: Pai besteigt wie einst ihre Vorfahren den Rücken eines Wales, woraufhin dieser sich wieder in die Weiten des Ozean begibt.

Das Maori-Dorf Whangara an der Ostküste Neuseelands
Das Maori-Dorf Whangara an der Ostküste Neuseelands

Niki Caro hat mit Whale Rider - nach Memory & Desire - ihren zweiten Feature Film vorgestellt. Die neuseeländisch-deutsche Coproduktion konnte seit seinem Release 2002 bereits weltweit 8 Preise bei Filmfestivals einheimsen. Vorlage ist das Buch des Maori Witi Ihimaera, dessen Kurzgeschichten und Romane immer wieder um die Mythen und Lebensweisen seines eigenen Stammes kreisen.

Das Setup des Films

Der geschilderte Maori-Stamm gehört zu einer vom Aussterben bedrohten Völkergruppe. Dabei wird das Aussterben auf zwei Arten behandelt:

  • Einmal wörtlich biologisch genommen im Sinne vom Aussterben der Population. Dafür stehen die Anfangssequenzen (Tod und Geburt im Krankenhaus) sowie das Verdikt Pais an die rauchenden Mütter: "Wir Maori-Frauen müssen auf unsere Fruchtbarkeit achten"...


  • Zum zweiten bedeutet Aussterben den Verlust der Tradition, also der Lebensformen, der Religion, der Riten. Es bedeutet aber auch das Bröckeln des Zusammenhaltes der Gruppe. Für dieses andere Aussterben steht der Vater (Porourangi) Pais, der nach Deutschland abwandert. Er fördert sozusagen doppelt das Aussterben, weil er die Gruppe verlässt - ihr Zusammenbleiben zerstört - und auch fern der Heimat die Tradition nicht mehr pflegt. Gleichfalls für diese Aussterben steht der kiffende, ewig Party feiernde Hippie-Onkel (Rawiri) Pais.

Zur Personenkonstellation:

Die Personen
Die beiden Hauptpersonen des Films sind das Mädchen Pai (unglaublich gut gespielt von Keisha Castle-Hughes) und ihr Opa Koro (Rawiri Paratene), der noch der Stammesführer ist. Erzählt wird der Film aus der Perspektive Pais, die als Ich-Erzähler aus dem Off zu Beginn wie am Ende des Films die Handlung kommentierend begleitet.

Zentrale Figur des Films ist jedoch ihr Großvater, an dessen klarer und starker Position die moralischen Räume und Dimensionen aufgezogen werden. Koro steht für die alte Tradition, das Überlieferte und zwar in einer ganz bestimmten Weise: er steht für eine orthodoxe und damit für eine starre und statische Interpretation der Tradition. Und er vertritt Interpretationshoheit mit aller Vehemenz und relgiöser Inbrunst.

Das Mädchen hingegen steht für eine dynamische, neue Interpretation der Tradition ohne diese explizit zu vertreten. Sie erhebt keinen Führungsanspruch, will nur zeigen, dass auch sie als Mädchen das kann, was Koro nur den Jungen des Dorfes abverlangt. Pai repräsentiert damit auch die dauernde Herausforderung der alten Tradition Koros.

Das ist der Hauptkonflikt des Filmes. Interessant allein, dass dieser Konflikt eigentlich nicht zwischen zwei Personen ausgetragen wird, wie dies zwischen zwei Erwachsenen der Fall wäre, sondern in einer Person, nämlich der des Großvaters. In ihm treffen seine orthodoxen Ãœberzeugungen von Tradition auf die ständige Herausforderung Pais, die ”auch mitmachen will”. Pai selbst fordert Koro nie aktiv heraus, sondern handelt meist unbewusst, aus Neugier, Spieldrang, Imitierfreude und last but not least aus Liebe zu ihrem Großvater (ihrem Ziehvater).

Alle anderen Personen gruppieren sich um diese Konstellation herum, in der Koro im Zentrum steht: die Ehefrau (Flowers) Koros, die ähnliche Machtkonflikte mit ihm aus- und ertragen muss, der Vater (Porourangi) Pais, der aufgrund der Starrköpfigkeit Koros die Sippe verlassen hat und der Onkel (Rawiri) Pais, der das geduldig macht, was Koro ihm aufträgt und sich hinterher lieber in Ruhe einen kifft.

Diese drei Personenkreise stehen für drei Reaktionsweisen auf die starre Tradition à la Koro. Und sie umreissen drei verschiedene soziale Lebensformen:
  • die Ehefrau Koros liebt ihren Mann, muss sich jedoch immer wieder mit ansehen, wie sie und die Ihren in ein Korsett gepresst werden, in dem der Begriff von individueller Lebensplanung ein Fremdwort ist.


  • der Vater Pais, erstgeborener Sohn Koros eben, haut lieber ab, weil er nicht an die Wandlungsfähigkeit des orthodoxen Traditionssystems glaubt und - vor allem -, weil er nicht das erfüllen will, was ihm der Mythos seines Vaters die ganze Zeit einreden will.


  • der Onkel Pais, der in einer Art innerer Widerstand alles in stoischer Ruhe zu ertragen scheint, allerdings sich seine eigene Lebenswelt mit alternativ angehauchtem Hippieflair als Rückzugspunkt zurückbehält. Er ist der brave Untertan, der allerdings die Trennung von Offiziellem und Privatem einfordert und aufrechterhält.

Als Gegenspieler zu Koro würden sich diese drei Personen(kreise) viel besser eignen. Alle wären sie erwachsen und würden schöne klassische Konflikt- und Rededuelle ergeben, wie sie in der Szene nach der Diavorführung zwischen Opa und Vater des Mädchens kurz angeboten werden.

Der klassische Ethno-Film a la "Jalla, Jalla" oder "East is East" oder "Kick it Like Beckham" würde den Konflikt etwa zwischen Koro und dem ausgewanderten Vater Pais (dem Vertreter westlicher Post-Modernität) aufziehen, zwischen westlicher Moderne und indigener Tradition.

Da ließen sich denn auch prächtig Klischees bedienen und schnelle Lacher ernten. In vielen Ethno-Filmen wird deshalb mit einer starren Zweiteilung gearbeitet - hier Tradition, dort Moderne - und die Lösung besteht eigentlich am Ende immer darin, dass eine der beiden Seiten untergeht oder sich an die andere anpassen muss - meist ist es, wen wunderts, die traditionelle Kultur.

Tradition von Innen (ver)ändern, nicht von Außen

Nicht so in Whale Rider: Bei Niki Caro kommt die Herausforderung nicht von Außen, sondern von Innen. Es sind nicht einzelne Personen der Gruppe, die eine moderne Identität angenommen haben und somit das alte traditionelle System bedrohen und herausfordern. Nein, es sind gerade die Personen, die die Tradition ernst nehmen, sie annehmen und sie weiter leben wollen. Pai opponiert nicht gegen Koros Traditionen, sondern will ja gerade seine Ideen mit größter Inbrunst weiterführen. Koro kann oder will das nicht begreifen, weil für ihn das Mädchen eine Bedrohung seiner mythischen Überzeugung ist, die eben nur männliche Nachfolger zuläßt.

Mit Koro und Pai prallen damit nicht Moderne und Tradition, sondern zwei verschiedene Begriffe von Tradition aufeinander. Und der Film löst diesen Konflikt äußerst einfühlsam und gekonnt.

Koro beim trainieren mit den Jungen des Dorfes
Koro beim trainieren mit den Jungen des Dorfes

Doch was unterscheidet dann die beidenTraditionsbegriffe? Die Ãœberzeugungen des Koroschen Traditionsbegriffs sind:
  • Patriarchat, anders: es gibt in der Ethnie eine auserwählte Untergruppe (die Männer nämlich), der es ausschliesslich möglich ist zu herrschen. Verdeutlicht wird das in den Campszenen und im Auschluss Pais von diesen Veranstaltungen.


  • Absolutistische Ein-Personen-Herrschaft: Koro herrscht ohne Beirat oder Rat. Er hält nicht Rücksprache mit seinem Stamm, bindet keinen in seine Entscheidungsprozesse ein, sondern beruft sich auf den Stammesmythos und hält nur innere Rücksprache.


  • die Entfremdung der Tradition von den Menschen oder anders: eine Tradition des Äußerlichen, eine versachlichte Tradition. Bei Koro tritt den Mitgliedern der Gruppe ihre Tradition als etwas Versachlichtes und bloß Äußerliches gegenüber. Sie wird kaum noch gelebt, weil sie entweder wie eine Theatervorführung vorgestellt wird (siehe Szene in der Schule, in welcher der sozial abgestürzte Vater eines Jungen nur kurz die Vorführung besucht, um dann sogleich wieder abzuhauen) oder durch seltsame Initiationsriten eingehämmert werden muss.


  • Buchstabentreue und Orthodoxie: Orthodoxie hatte schon immer etwas mit Interpretationshoheit der Glaubensüberzeugungen zu tun. Sie stand in westlichen Tradition für eine Hierarchie, in der am unteren Ende für das persönliche Erfahren von Religion nicht mehr viel übrig blieb. Dabei hatte Orthodoxie auch etwas Widersinniges: die Berufung auf das Wort, die die reine Lehre schon an sich vorstellen sollte, bedurfte eigentlich gar keiner Interpretation mehr. So verstanden sich denn die Orthodoxen oft auch mehr als Wächter des Wortes denn als ihre Herren. So auch bei Koro: er will dem rechten Glauben unbedingt Geltung verschaffen und verfällt in tiefe Depression, wenn sich dieser nicht offenbaren will.


  • Zwang: Tradition im Sinne Koros meint auch immer ein Zwangssystem von Regeln, denen sich jeder ausnahmslos zu beugen hat, will er nicht seinen Auschluss aus der Gruppe riskieren.


  • Exklusivität (Auserwähltheit) und Zwang zusammen ergeben ein weiteres Moment Koros Herrschafft: Identität ist nur innerhalb der Gruppe zugelassen und jeder ist stets von der Vernichtung seiner Identität bedroht, wenn er aus der Gruppe ausgeschlossen wird.


  • Erntshaftigkeit und Skepsis oder der Zwangscharakter: die bittere Miene, mit der Koro alles verfolgt und kommentiert, kehrt den Zwang gegen sich selbst. Koro lacht eigentlich bis zum Ende kein einziges Mal, er scheint überhaupt keinen Spaß am Leben zu haben (siehe Bild).
Koro (Rawiri Paratene)

Der Traditionsbegriff Koros errichtet eine uneinnehmbare Burg festgezurrter Überzeugungen, die ein System von absoluter Herrschaft begründen. Und Pais Traditionsbegriff? Es sei hier nochmals der Hinweis gestattet, dass Pai selten einen explizit-verbalen Begriff formuliert, vielmehr zeigt sie diesen in ihren Handlungen:
  • kein Patriarchat, anders: es soll der Beste herrschen. Es gibt keine Gruppe von vorneherein Auserwählten mehr. Sie ist die beste Taucherin, die beste Kämpferin, die beste Rednerin, also warum darf sie nicht “mitmachen“. Pai enthüllt durch ihre Taten das Prinzip der männlichen Auserwähltheit als Ideologie: das Prinzip der Auserwähltheit will sich nachträglich durch ein Pseudo-Leistungsprinzip (die Prüfungen der Jungen) rechtfertigen...und scheitert kläglich. Wer das (hier: mythische) Leistungsprinzip des “Der Beste Kämpfer, Taucher, etc. möge gewinnen“ wirklich Ernst nimmt - wie Pai es tut -, der darf nicht von vorneherein die weibliche Hälfte der Bevölkerung auschließen.


  • Herrschaft als Integration und “demokratischer Prozess“: das Seil-Gleichnis verdeutlicht dies (siehe Bild). Koro erklärt Pai gleichnishaft, dass die Zwirne eines Seils die Teile des Volk seien, die man wie die Zwirne des Seils unbedingt zusammenhalten müsse. Das Seil reißt jedoch. Während Koro das Seil einfach wegwirft, verfährt Pai dagegen anders: sie knüpft nicht nur das Seil wieder zusammen, sondern meint dann auch noch, dass irgendwie alle herschen müssten, da sonst das Ganze nicht zusammenbleiben könne. Dieser Herrschaftsbegriff ist radikal neu gegenüber dem Koros: was nicht hält und passt, wird wieder zusammengeführt. Pai will intergrieren, miteinbeziehen und zusammenführen, während Koro ausschließt und ausgrenzt.


  • Koro (Rawiri Paratene) li. und Pai (Keisha Castle-Hughes)

  • Innere Tradition statt entfremdeter: Leben von Tradition heißt für Pai abzusehen von den seltsamen, selbstzwanghaften Initiationsriten und wieder zum Kern dessen vordringen, worum es im Mythos eigentlich geht: nämlich zur Einheit des Menschen mit der Natur. Es geht nicht im eine Tradition äußerlicher Präsentation, die innere Erleuchtung und Stärke vorgaukeln soll, sondern um echte innere Anteilnahme. Während ihr Freund im Trainingscamp brav sein Erlerntes beim “Tag der Offenen Tür“ ohne rechte Anteilnahme abspult, hält Pai tränenüberströmt ihre preisgekrönte Rede im Rahmen der Schulabschlussfeier.


  • keine Orthodoxie: allein ihre Existenz als erstgeborene Tochter des erstgeborenen Sohnes nährt den Zweifel an der Richtigkeit der mythischen Weissagung. Pai kümmert sich nicht um diese, sondern will einfach durch Handeln zeigen, nicht mit Worten sagen.


  • Tradition, die Spaß macht: Pais spielerische und heitere Art, traditionelle Lebenweisen und Sitten zu leben (siehe Bild), steht in heftigem Kontrast zur ewig-bitterernsten Miene Koros.
Onkel Rawiri (Grant Roa) li. und Pai (Keisha Castle-Hughes)
Onkel Rawiri (Grant Roa) li. und Pai (Keisha Castle-Hughes)

Tradition ist beim Mädchen ein spielerisches Verfahren sich die Welt immer wieder anzueignen. Damit ist aber Tradition auch wandelbar, nicht ein für allemal festgeschrieben. Dass dieser Wandel weder die Aufgabe von Tradition noch die völlige Leugnung des Neuen bedeutet, ist die zentrale Aussage des Films.

In Whale Rider hat am Ende keiner verloren: keiner hat sich an den anderen anpassen müssen. In dieser Art haben wir das so noch nicht sehen dürfen. Die mythische Weissagung Koros hat sich erfüllt und trotzdem muss sie umgeschrieben werden. Auch die Tradition muss zuzeiten ihre Grundlagen überprüfen und in der Lage sein, sie umzuschreiben. Dass dies nicht ihren Untergang bedeutet, soll der Film zeigen. Der Clou ist, dass die Tradition nicht untergeht oder sich zwanghaft an etwas Neues anpassen muss und TROTZDEM nicht starr bleibt. Deswegen stellt der Film in geradzu genialer Weise eine Lösung vor, wie indigene und traditionelle Lebensweisen auf zweifache Weise aufgehoben werden können: sie werden bewahrt (im Sinne von etwas aufbewahren) und sie werden trotzdem auf eine neue Stufe gehoben und werden verändert.

Der neue Begriff von Tradition wendet sich an beide Seiten: die alte Welt und die neue Welt der Moderne. Modernisten wie Traditionalisten finden hier ihre Haltung bestätigt: Modernisten verweisen darauf, dass Kulturen, die sich nicht ändern können, dem Untergang geweiht sind und deuten auf die unterdrückende Funktion vieler traditioneller Institutionen (im Film hauptsächlich das Patriarchat); die Traditionalisten verweisen auf die Notwendigkeit gemeinsamer und geteilter Überzeugungen, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft garantieren.

Caros und Ihimaeras Traditionsbegriff will beide Seiten in sich aufnehmen: Tradition darf nicht wörtlich genommen werden, sondern muss auch immer wieder sich neuen Herausforderungen stellen und diese in die vorhandenen Überzeugungen integrieren. Dadurch soll Tradition auch beitragen zu einer besseren, herschaftsfreieren Welt, in der es keine Unterdrückung der Frauen mehr gibt und andere Lebensformen (Hippies) akzeptiert und integriert werden. Das ist moralische Ideal des Films.

Wandel, Integration und Akzeptanz waren Werte, die eigentlich in den klassischen Ethno-Filmen immer auf die Seite der westlichen Moderne geschlagen wurden, in Whale Rider entwickelt die Gruppe in der IHR EIGENER MYTHISCHER WEISE diese Werte aus sich selbst heraus. Das findet nicht durch Aufklärung statt, es findet auch nicht im Rahmen eines Erkenntnisprozesses statt, an dessen Ende die Vertreter des Alten ihre Überzeugungen aufgeben. Sondern es findet durch eine mythische Offenbarung (das Walreiten Pais eben) statt.

Pai (Keisha Castle-Hughes)


Warum Whale Rider kein feministischer Film ist

In Europa und den USA ist der Film vielerorts als feministisches Meisterwerk gepriesen worden. Unbestreitbar ist, dass der Anlass des Konflikts zwischen Pai und ihrem Großvater darin zu suchen ist, dass Pai nicht dem patriarchalen Ideal Koros entspricht. Unbestreitbar ist auch, dass die Großmutter in ihrer Ehe so ihre Probleme mit Koro hat, weil der unumschränkt und ohne große Diskussion der Familie seine Ideale oktroyiert.

Jedoch schauen wir nur an, was da als sogenannter feministischer Gegenentwurf angeboten wird, dann muss sich Enttäuschung breit machen: Als Herausforderung des Patriarchats steht ein Mädchen ziemlich einsam und schutzlos da. Ihr Ziel ist weder die Beseitigung noch der Kampf gegen das Patriarchat, sondern nur die Liebe ihres Unterdrückers zu gewinnen. Und das einzige Mittel, ihre Führungsqualitäten zu beweisen, besteht nicht darin, sich auf einen politischen Kampf mit Koro einzulassen (wie sollte sie auch als Mädchen), sondern durch die Realisierung eines Mythos, an den sowieso nur noch der Alte zu glauben scheint. Pai eignet sich nun wirklich nicht als Kämpferin für die Rechte der Frau. Die einzige Person des Films, die sich am weitesten für die Rechte der Frauen einsetzt, ist Koros Ehefrau. Doch leider kulminiert deren “Feminismus“ in der doch recht bescheidenen Position der Hausfrau, wogegen sich zumindest westliche Feministinnen verwehren würden: “Du magst draußen herrschen, aber hier im Haus habe ich das Sagen“.

Ich denke, wer mit den klassischen Denkmustern argumentiert, die mit westlichen Ismen dem Film zu Leibe rücken wollen, hat nicht verstanden, dass es hier um eine Innensicht des Stammes geht. Kategorien wie Femininismus sind den Personen des Films schlichtweg fremd. Wenn westliche Feministinnen den Film für ihren Ismus in Anspruch nehmen, prolongieren sie nichts anderes als was der Kolonialismus schon immer tat: den anderen die eigenen Wertekategorien aufzudrängen.

Mit Koros Herrschaft wird nicht primär das Patriarchat, sondern eine bestimmte Idee von Herrschaft aus den Angeln gehoben: diejenige nämlich, in der die Herrschenden mit der Interpretationshoheit des Gruppenmythos auch ihre eigene Auserwähltheit begründen und zementieren wollen. Ähnliches läßt sich auch im Katholizismus nachweisen. Dass dies gerade Männer sind, ist zwar nicht reiner Zufall, weil historische Tatsache in den meisten Gesellschaften, aber vom moralischen Standpunkt des Films aus gesehen unerheblich. Vom moralischen Standpunkt aus gesehen wesentlich ist, wie dort Herrschaft begründet und gerechtfertigt wird und wie sich dieses Muster ändert.

Pai (Keisha Castle-Hughes) li. und Koro (Rawiri Paratene)

Wenn am Ende Koro und Pai einträchtig lächelnd im selben Boot sitzen (die Metapher ist ja auch so gewollt inszeniert; siehe Bild), mag die Alleinherrschaft der Männer verloren haben. Doch: dessen Vertreter sitzt noch immer am Steuer des Boots. Und akzeptiert hat er auch seine Nachfolgerin nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten, sondern weil sie eine mythisch-magische Offenbarung abgeliefert hat. Es ist zu bezweifeln, dass er Pai als eigenständige Person, ja dass er von nun an alle Frauen als vollwertige Wesen anerkennt, jedenfalls sagt es uns der Film nicht...

Die Ideologie des Films

Schön und gut. Ein Modell gelingender Traditionsbewahrung durch Veränderung der Tradition von Innen. Leider stehen traditionelle Lebensformen heute eben genau dem gegenüber, was der Film einfach ausbelendet: der menschen- und bodenverschlingenden westlichen Moderne. Im Film wird die Moderne in Person des Vaters mit dem Ford Geländewagen wieder "nach Hause geschickt". Nun, sooo einfach ist es denn auch wieder nicht.

Aber vielleicht wollen Caro und Ihimaera ja durch ihre Robinsonade, diese so schön als Quasi-Idylle fotografierte Kapsel, gerade zeigen, dass Traditionensgemeinschaften keine Angst vor einer Invasion der Moderne zu haben brauchen, wenn sie sich nur so wie unser Maori-Stamm verhalten. Ich möchte es glauben.



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hinzugefügt: August 23rd 2003
Autor: Wolfgang Melchior
Punkte:
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Hits: 20458
Sprache: deu

  

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