Dogville
DĂ€nemark 2003 Regie: Lars von Trier
Die BĂŒhne leer und alle Fragen offen – Dogville von Lars von Trier
Das Kino ist eine grosse Illusionsmaschine. Es erschafft fĂŒr uns Welten, entfĂŒhrt ins die SphĂ€ren der Phantasie. FĂŒr Hollywood bedeutet das, immer noch phantastischere Szenerien zu entwerfen, dem Zuschauer mit immer neuen Tricks noch wunderbarere Orte vorzugaukeln. Genau diesem Kino hat Lars von Trier den Kampf angesagt. Der grösste Illusionist ist fĂŒr ihn immer noch das menschliche Gehirn. Und so macht er denn in Dogville buchstĂ€blich reinen Tisch und lĂ€sst alles weg, was nach Kulisse oder falschem Schein aussehen könnte. Eine grosse flache BĂŒhne, weisse Markierungen am Boden und ein paar wenige Requisiten wie ein Fenster mit VorhĂ€ngen, eine Kirchglocke oder eine Bank reichen dem DĂ€nen, um Dogville ein kleines Nest in den Rocky Mountains, im Kopf des Zuschauers RealitĂ€t werden zu lassen.
Der Regieexzentiker von Trier ist also einmal mehr daran, das Kino radikal neu zu erfinden, dieses mal mit einem stark theaterhaften Arrangement. Und tatsĂ€chlich hat der Film etwas LehrstĂŒckhaftes, wirkt wie eine Mischung aus Brecht und kleinem Welttheater. Denn die Bewohner von Dogville mit ihren SchwĂ€chen und SehnsĂŒchten, ihren nur allzu menschlichen Fehlern, stehen stellvertretend fĂŒr alle SĂŒnder dieser Erde. Die ganze Welt ist eine BĂŒhne, oder auch umgekehrt.
In der Abgeschiedenheit von Dogville taucht eines Nachts Grace (Nicole Kidman) auf, begleitet von PistolenschĂŒssen. Grace ist viel zu schön fĂŒr diese Einöde, sie gehört nicht hierher. Sie selbst weiss das auch, will gar nicht bleiben, doch Tom (Paul Bettany), der lokale Möchtegernschriftsteller, dessen Produktion sich bislang auf die beiden Worte „gross klein“ beschrĂ€nkt, möchte sie unbedingt im Dorf behalten. FĂŒr ihn, der seinen Mitmenschen regelmĂ€ssige moralische VortrĂ€ge hĂ€lt, ist Grace die PrĂŒfung, an der sich Dogville beweisen muss.
Die Fremde wird vorerst aufgenommen, und schon bald zeigt sich, dass ein Leben mit Grace einfach lebenswerter ist. Jedem in Dogville kann sie helfen: Dem blinden McKay (Ben Gazzara) dient sie als Augen, dem tumben Bill Henson (Stellan SkarsgĂ„rd) als Gehirn, und der mĂŒrrische Chuck hat endlich jemanden, der seine Leidenschaft fĂŒr Ăpfel teilt. Die schöne Grace fĂŒgt sich nahtlos in die Reihe der von Trierschen Frauengestalten ein. Auch sie ist GĂŒte und Nachsicht in Person, bereit, alle Schuld auf sich zu nehmen. Kidman hat nicht nur das kindliche LĂ€cheln erlent, welches schon Emily Watson (Breaking the Waves) und Björk (Dancer in the Dark) auszeichnete, mit ihrer blassen Haut und dem scheuen Blick wirkt sie vollends wie ein auf die Erde gefanllener Engel.
FĂŒr eine kurze Zeit herrscht Idylle und Harmonie im Dorf, doch als man gemeinsam den vierten Juli feiern will, fĂ€hrt zum zweiten mal der Sheriff vor. Bei seinem ersten Besuch hinterliess er eine Vermisstenanzeige, dieses mal ist es schlimmer: Grace wird steckbrieflich gesucht. Noch scheinen sich die Einwohner davon nicht beeindrucken zu lassen, offiziell steht man noch zu der Verfolgten, doch das labile dörfliche Gleichgewicht ist gestört. Grace, diese Personifizierung der Reinheit, ist erpressbar geworden, und langsam aber sicher nutzen die Einwohner von Dogville ihre SchwĂ€che aus. Was nun folgt, kennt man bereits aus von Triers frĂŒheren Filmen: Grace muss eine einzige Abfolge von DemĂŒtigungen hinnehmen. Sie wird erniedrigt, vergewaltigt und gequĂ€lt. Der Engel bringt in jedem Einwohner von Dogville die schlechteste Seite zum Vorschein, und sie, die niemandem etwas Böses kann, nimmt alles auf sich, erkennt ihre nicht existierende Schuld an und hĂ€lt auch bereitwillig die andere Backe hin.
So weit nichts Neues im von Trierschen Land. Wieder wohnen wir dem Opfergang einer Frau bei, die einfach zu gut ist fĂŒr diese Welt. Doch bevor wir uns ernsthaft ĂŒber von Triers Frauenbild wundern können, kommt es zu einer unerwarteten Wendung: Die Erniedrigte schlĂ€gt zurĂŒck. In einer Mischung aus Fegefeuer, Weltenbrand und Apokalypse lĂ€sst Grace das ganze Dorf dem Erdboden gleichmachen, bis von Dogville nur noch der Dog ĂŒbrig bleibt.
Falls dieses Ende als reinigende Katharsis gemeint ist, ist es auf jeden Fall misslungen. Denn als Zuschauer ist man am Ende nicht etwa gelĂ€utert, sondern vor allem irritiert. Was – so die meistgehörte Frage am Kinoausgang – soll das alles eigentlich? Der Film macht uns in jeder Einstellung deutlich, dass er nicht „bloss eine Geschichte erzĂ€hlt.“ Das Kino wird in Dogville zur grossen Symbol- und Metaphernmaschine. Alles ist hier durchtrĂ€nkt von Anspielungen und tiefem Sinn. Brecht und die Bibel stehen Pate, der Off-Kommentar ist eine Referenz an Kubricks KostĂŒmepos Barry Lyndon, und in den zehn Kapiteln des Films wird die Zeitspanne eines vollen Jahrs abgedeckt. Alles schön und gut, aber was ist denn nun die Lehre in diesem hypersymbolischen LehrstĂŒck?
Vielleicht gibt uns ja der Abspann Aufschluss: Zu David Bowies Young Americans werden Bilder des gesammelten amerikanischen Elends des zwanzigsten Jahrhunderts prĂ€sentiert. Viele hungernde und arbeitslose Menschen, Gewalt und Tote und - rechtzeitig auf das Stichworts des Songtextes - Richard Nixon. Ist die Geschichte, die drei Stunden lang mit aller Kraft ihre AllgemeingĂŒltigkeit behauptet hat, also eine nur ein Parabel auf das moderne Amerika? Oder geht's hier – ganz im Gegenteil – um das Amerika in uns allen? Oder hat das am Ende alles gar nichts zu bedeuten und ist nur aus dem einfachen Grund im Film, weil es keinen Bowie-Song mit dem Titel Young Danishs gibt? Fragen ĂŒber Fragen. Wer Antworten erwartet, sollte Dogville meiden.
Weitere Links zum Thema:
Mehr Kritiken zum Film auf |
|
|
|
hinzugefügt: October 12th 2003 Autor: Simon Spiegel Punkte: zugehöriger Link: Internet Movie Database (IMDb) Hits: 11491 Sprache: deu
|